Wir lesen jetzt Uwe Timm, ,,Am Beispiel Meines Bruders," in einem Kurs der zeitgenössischen deutschen Literatur. Es handelt sich von einem Schriftsteller, der das Tagebuch seines 16-Jahre-älteren Bruders bekommt. Der Bruder trat freiwillig der Waffen-SS bei, wurde in der Ukraine eingesetzt, bekam beide Beine amputiert und ist dort an seinen Verletzungen auch gestorben.
Seine Familie ist nun übrig geblieben: der autoritäre Vater, der selbst bei der Luftwaffe war und seitdem langsam versunken, dem der ältere Sohn alles war; die Schwester, die nie Zuwendung ihres Vaters hatte und erst mit 70 sich als glücklich bezeichnen konnte; die Mutter, die im Schatten ihres Mannes stand—und der kleine Uwe, der nicht sein Bruder war.
Indem er der Geschichte seines Bruders nachgeht--was er machte, was er war--stellt Uwe ihn in Frage. Warum trat er damals freiwillig ein? Diese Frage verlangt danach, der Familie nachzuschauen. War sein Vater nur ein ,,guter Deutsche“? Tugendhaft der Arbeit nachgehend, kurzfristigen Erfolg erlangend, hatte er es von seinem Sohn erwartet, das Vaterland zu verteidigen? Obwohl nie in der Partei, war der Vater ein Nazi? Und gleichzeitig auch ein Mensch? Und was für einen? Betrachtet man die Familie, betrachtet man die Gesellschaft. Sie waren ja normale Deutschen, nicht wahr? Die Frage nach der Normalität hinterfragt die gesellschaftlichen Werte, die schließlich zur ,,Endlösung“, zur Menschenvernichtung führten.
Es wurde geschwiegen. Man mochte nicht drüber reden, was damals passiert war—gemacht wurde. Die Ereignisse geschahen nicht vom selbst, sie wurden verübt, begangen. Und von wem? Er fragt nicht warum, der Timm. Vielleicht interessiert es ihm, was einen dazu bringt, Menschen wie in Babij Jar massenweise, tausendfach zu erschießen. Das spricht er aber nicht an, nicht wirklich. Er will wissen warum wir (sie) schwiegen, ob wir (sie) es wussten. Wieso wir (sie) es nicht wissen wollten. Wer hat Schuld?
Das Thema des Schweigens kommt oft vor. Totschweigen—von der Familie keine Nachricht zu bekommen—nicht zu sagen, wie man sich fühlt, nicht drüber reden, was man eben gemacht hat, was gemacht wurde—und dieses Enteignung, dieses Nicht-Haben-Sehen-Wollens—---darin liegt der Schuld. "Das war nicht nur ein Weinen um den toten Sohn, es war etwas Sprachloses" (s. 99). Wie wird man damit fertig?
Wo überschneiden sich Erinnerung, Lüge, Geschichte, Wahrheit? Können sie dieselben sein? Ist es von Bedeutung, was wirklich passiert war, oder ist das Erinnern selbst das Wichtige? Wenn die Leute tot sind, alles, was übrig geblieben ist sind unsere Erinnerungen, sind die Eigenschaften und Tugenden und Sünde, die wir ihnen nachträglich anhängen wie bunte Weihnachtskugel, die gegeneinander prallen und schließlich bersten.
7.10.1941
Aus der Ereignismeldung UdSSR Nr. 106
(...)
II. Exekutionen und sonstige Maßnahmen
Einmal auf Grund der wirtschaftlichen Besserstellung der Juden unter bolschewistischer Herrschaft und ihrer Zuträger- und Agentendienste für das NKWD, zum anderen wegen der in erfolgten Sprengungen und der daraus entstandenen Großfeuer, war die Erregung der Bevölkerung gegen die Juden außerordentlich groß. Hinzu kommt, daß Juden sich nachweislich an der Brandlegung beteiligt hatten. Die Bevölkerung erwartete deshalb von den deutschen Behörden entsprechende Vergeltungsmaßnahmen. Aus diesem Grunde wurden in Vereinbarung mit dem Stadtkommandanten sämtliche Juden Kiews aufgefordert, sich am Montag, den 29.9. bis 8.00 Uhr an einem bestimmten Platz einzufinden. Diese Aufrufe wurden durch die Angehörigen der aufgestellten ukrainischen Miliz in der ganzen Stadt angeschlagen. Gleichzeitig wurde mündlich
bekanntgegeben, daß sämtliche Juden Kiews umgesiedelt würden.
In Zusammenarbeit mit dem Gruppenstab und 2 Kommandos des Polizeiregiments Süd hat das Sonderkommando 4a am 29. und 30.9. 33771 Juden exekutiert. Geld, Wertsachen, Wäsche und Kleidungsstücke wurden sichergestellt und zum Teil der NSV zur Ausrüstung der Volksdeutschen, z. T. der kommissarischen
Stadtverwaltung zur Überlassung an bedürftige Bevölkerung übergeben. Die Aktion selbst ist reibungslos verlaufen. Irgendwelche Zwischenfälle haben sich nicht ergeben Die gegen die Juden durchgeführte "Umsiedlungsmaßnahme" hat durchaus die Zustimmung der Bevölkerung gefunden. Daß die Juden tatsächlich liquidiert wurden, ist bisher kaum bekannt geworden, würde auch
nach den bisherigen Erfahrungen kaum auf Ablehnung stoßen. Von der Wehrmacht wurden die durchgeführten Maßnahmen ebenfalls gutgeheißen. Die noch nicht erfaßten, bzw. nach und nach in die Stadt zurückkehrenden geflüchteten Juden werden von Fall zu Fall entsprechend behandelt.
Gleichzeitig konnte eine Reihe NKWD-Beamter, politischer Kommissare und Partisanenführer erfaßt und erledigt werden.
Die Bandera-Männer hatten durch die vor Kiew seitens der Kommandos erfolgten Festnahme an Stoßkraft verloren, und es wurde eine Betätigung bisher nur im Verteilen von Flugblättern und Ankleben von Plakaten festgestellt.
3 Festnahmen sind erfolgt, weitere eingeleitet.
Seitens des Gruppenstabes sowie des Sonderkommandos 4a und des ebenfalls in Kiew eingerückten Ersatzkommandos 5 wurde sofort die Verbindung mit den zuständigen Stellen aufgenommen. Mit diesen Stellen wurde eine laufende Zusammenarbeit erzielt und in täglichen Besprechungen die aktuellen Probleme durchgesprochen. Über die Tätigkeit der Einsatzkommandos muß bei der Fülle des Materials jeweils durch entsprechende Tätigkeitsberichte im Einzelnen berichtet werden.
III. Shitomir, Aktionen gegen die Juden.
Nachdem auf Vorschlag des Sonderkommandos 4a seitens der Feldkommandantur eine räumlich begrenzte Zusammenziehung der Juden Shitomirs erfolgt war, konnte festgestellt werden, daß gleichzeitig damit eine merkliche Beruhigung eintrat, wie z. B. auf den Märkten usw. Gleichzeitig flauten bisher sich hartnäckig haltende Gerüchte stark ab und es schien, als ob mit der Zusammenfassung der Juden damit auch einer kommunistischen Propaganda weitgehend der Boden entzogen wäre. Bereits nach einigen Tagen stellte es sich jedoch heraus, daß nur räumliche Zusammenfassung der Juden ohne Errichtung eines Ghettos nicht genügte und in kurzer Zeit die alten Schwierigkeiten wieder auftauchten. Von verschiedenen Dienststellen liefen Klagen über das freche Verhalten der Juden auf der Arbeitsstelle ein. Es konnte festgestellt werden, daß eine rege Propaganda unter den Ukrainern, die besagte, daß die Rote Armee sehr bald die ihr entrissenen Gebiete wieder zurückerobern würde, ihren Ausgangspunkt aus dem Judenviertel nahm. Die örtliche Miliz wurde des Nachts und auch bei Tage aus dem Hinterhalt beschossen. Weiter wurde festgestellt, daß Juden ihr Hab und Gut in
Geldeswert umtauschten und die Stadt verließen, um in die westliche Ukraine - d. h. in Gebiete, wo bereits eine Zivilverwaltung besteht - hinüberzuwechseln. Alle genannten Erscheinungen konnten festgestellt werden, die betreffenden Juden wurden jedoch in den seltensten Fällen gegriffen, da sie genügend Möglichkeiten hatten, sich einem Zugriff zu entziehen. Es fand deshalb am 10.9.1941 eine diesbezügliche Besprechung mit der Feldkommandantur statt, in deren Ergebnis beschlossen wurde, die
Judenschaft von Shitomir endgültig und radikal zu liquidieren, da alle bisherigen Verwarnungen und Sondermaßnahmen keine fühlbare Entlastung gebracht hatten.
Am 19.9.41 wurde das Judenviertel ab 4.00 Uhr früh geräumt, nachdem es am Abend vorher von 60 Mann ukrainischer Miliz umstellt und abgesperrt worden war. Der Abtransport erfolgte mit 12 LKW, von denen einen Teil die Feldkommandantur bzw. die
Stadtverwaltung von Shitomir zur Verfügung gestellt hat. Nachdem der Abtransport erfolgt war und die notwendigen Vorbereitungen mit Hilfe von 150 Gefangenen getroffen worden waren, wurden insgesamt 3145 Juden registriert und exekutiert (...)
Das Buch heißt ,,Am Beispiel meines Bruders“. Wem ist der denn ein Beispiel? Ist er ein Beispiel oder ein Spiegelbild? Beispiel oder Gegenbild? Beispiel oder Vorbild? Wie sehr steckt der Vater in ihm? Wie sehr gleicht ihm Uwe? Wäre er auch so geworden, wenn er früher gestorben wäre?
Der Bruder erscheint ihm, dem Uwe, nur im Traum, im Buch, und in einzelnen Erinnerungen, die ihm flüchtig entfliehen. Stattdessen sieht er nur den Vater, den er nur selten den eigenen nannte—er ist immer nur ,,der“ Vater.
Und da steht Uwe. Im Nachhinein betrachtet er die Familie, die eigene Kindheit, den Bruder und dessen Buch. Steckt in uns allen Monster?
No comments:
Post a Comment